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ANJA VORMANN / GUNNAR FRIEL




LEBENSZEICHEN –
dynamisches Wachstum belebter und unbelebter Systeme.

Über die Arbeiten von Anja Vormann und Gunnar Friel

Kennzeichen simulierter lebender Systeme sind die Versorgung des simulierten Organismus mit Nahrung oder anderen Formen verwertbarer Energie, die Ausdehnung von Teilsystemen nach Fuzzy-Logic-Strategien, die Multiplikation vorhandener Untereinheiten durch Kopie und Begegnung zweier fortpflanzungsfähiger Systeme, die unkontrollierbare und lernbare Reaktion der Protagonisten sowie die Eigendynamik der simulierten Lebewesen und deren Fortbewegung und Bewegung.1

Wer je in den 1990er Jahren ein Tamagotchi betreut, „Siedler“ oder „Empire Earth“ gespielt hat, ist vertraut mit der Lebensnähe solcher Unterhaltungsspiele. Sehr genau halten sich die Spiele an die Merkmale des Lebendigen. Planspiele und Systemsimulationen, die aus den Regelmechanismen lebender Systeme abgeleitet wurden, sind seit 1948 unter dem Namen Kybernetik2 bekannt, als deren Begründer der US-amerikanische Mathematiker Norbert Wiener gilt. Künstlerinnen und Künstler, die mit dem Medium Computer arbeiteten, griffen diese Strukturen auf. Ihre Arbeiten werden seit den 1950er Jahren unter den Begriff „kybernetische Kunst“ gefasst und bilden, neben anderen Entwicklungslinien, Vorläufer der heutigen Medienkunst. Seit der Popularisierung des Computers Mitte der 1980er Jahre hat sich eine Mensch-Maschine-Synergie gebildet, ein neues dynamisches System, das die Grenzen an der Schnittstelle in verwischender Vagheit definieren sollte. Eine Trennung zwischen dem durch technische Medien erzeugten und dem realen Raum - man denke an die immer veristischer werdenden Architektur-, Flugsimulationen und Videospiele - kann nicht mehr in der Schärfe gezogen werden wie noch zehn Jahre zuvor.

In den Arbeiten von Anja Vormann und Gunnar Friel verbinden sich Wissenschaft und Kunst in einer Notwendigkeit, vergleichbar dem Beginn der Neuzeit, als der Raum durch die Einführung der Zentralperspektive neu definiert wurde. Heute findet eine durch technische Medien beeinflusste Neurezeption des Raumes statt. Nicht nur, dass die Technik den Naturwissenschaften Apparaturen und Programme zur Verfügung stellt, die von Künstlerinnen und Künstlern genutzt und ästhetisch ausgelotet werden können, vielmehr ist in den ausgestellten raumbezogenen Eingriffen, fotografischen und Video-Arbeiten von Anja Vormann und Gunnar Friel eine gegenseitige Durchdringung des wissenschaftlichen und künstlerischen Dispositivs zu erkennen. Die jeweiligen Arbeiten können mit dem bodenlosen oder dem humoristischen Aspekt der Absurdität daherkommen, aber auch vollkommen ernsthaft, bedrohlich, von beiläufiger Faktizität oder visionär sein.

Entscheidend für die Arbeiten ist das permanente Oszillieren zwischen vier Wirklichkeitsebenen, die in unterschiedlicher Reihenfolge und unterschiedlichem Bezug zueinander stehen:
1. der reale, vorgefundene Raum,
2. die Manipulation der Objekte auf der fotografischen Oberfläche in Bildbearbeitungsprogrammen,
3. das dreidimensionale Modell und
4. die späteren Interventionen im Raum.

Bei „Nottelefon”, „Heizkörper”, „Lichtleiste / Kapitellwachstum”, und auch bei der Installation „Schuttrutschen” untersuchen Anja Vormann und Gunnar Friel die gegebenen Räumlichkeiten in Hinblick auf ihre architektonische und funktionale Wirkung, um hier Eingriffe vorzunehmen, die sowohl nach biologischen Wachstums- und Fortpflanzungsgesetzmäßigkeiten als auch nach Copy-and -Paste-Strategien (im Bildbearbeitungsprogramm entstanden und folgend in den bestehenden Raum umgesetzt) funktionieren.

Die physische Raumwirkung des lang gestreckten, niedrigen Bunkerraums, der jetzt als Ausstellungsraum der Kunsthalle fungiert, ist drückend. Im Bildbearbeitungsprogramm entsteht ein Entwurf, der die parallelen Lichtleisten des Raumes verlängert und nach Prinzipien der Pflanzenwelt wachsen lässt. Bei Berührung mit einem Hindernis ändern diese die Richtung. Im Modell wird diese Wirkung überprüft und durch ein Absenken des Fluchtpunktes auf das obere Drittel der rückwärtigen Wand verstärkt. Durch Verlängerung eines Säulenkapitells, das einen Teil der Lichter abdeckt, wird ein zweiter Ausdehnungsprozess eingeführt. Das Wachstum des Kapitells der außerhalb der Reihe stehenden Säule wird durch eine Überwachungskamera beobachtet. Das Bild ist eines der vielen Überwachungsbilder, die der Pförtner zu kontrollieren hat. Ein weiteres Ausdehnen in den bereits außer Kontrolle geratenen Raum ist zu befürchten. Steht man an der Frontseite des Raumes, entsteht das Gefühl, man habe den Finger zu lange auf der Taste des Computers gehalten, als eine Einfügen-Funktion für ein Segment der Lichtleiste gewünscht wurde.

Auf die latente Bedrohung der in einer Sackgasse endenden Bunkerräume verweist im zweiten Raum das Nottelefon, in dessen unmittelbare Nähe identisch aussehende Telefon-Klone montiert wurden. Tritt der Fall ein, dass das Telefon benutzt werden muss, wird große Verwirrung herrschen, da die Abkömmlinge des Originals nicht funktionieren. Diese langfristige Installation korrespondiert jeweils mit den ausgestellten Arbeiten anderer Künstler und Künstlerinnen.

Im Eingangsbereich der Kunsthalle befinden sich zwei Heizkörper in einer Schleuse. Anja Vormann und Gunnar Friel verdoppeln einen der beiden; nicht in der zu erwartenden Spiegelung, die zwischen den Glasscheiben zu beobachten ist, sondern im selben Abstand und in selber Ausrichtung in den Außenraum. Spiegelung und Verdopplung sorgen im Innenraum für Verwirrung. Von Außen lässt sich beim Anblick eines auf das Pflaster montierten Heizkörpers ein Schildbürgerstreich vermuten, die Arbeit eines Monteurs, der keine Pläne lesen kann, oder vielleicht ein soziales Projekt (Kunst?), das Obdachlosen einen beheizten Schlafplatz verschafft.

Die sich vor der benachbarten Direktorenvilla eines Gymnasiums befindliche Installation „Schuttrutschen” simuliert eine Baustelle mit Fassadengerüst und Container. Mehrere Schuttrutschen bestehend aus konischen Segmenten, die durch zwei Seilzüge steuerbar sind, wurden vervielfacht und ihre Ausgänge funktionslos außerhalb des Containers ausgerichtet. Die an Tentakel erinnernden Schuttrutschen scheinen in einer zufälligen Bewegung eingefroren. Der Ohrenqualle Aurelia gleich könnten sie durch Teilung ein Segment abgeben. Auch hier durchlief die Installation den Weg über die Fotomanipulation und den Modellbau.

Im Modellbau wird eine körperliche Annäherung an den vorhandenen Raum erreicht, die durch Bildbearbeitung allein nicht möglich wäre. Digitale Gesetzmäßigkeiten als visuelle Oberflächenphänomene wieder in die Wirklichkeit zurückzuverpflanzen und in ihrer unangepassten Ästhetik sichtbar werden zu lassen, ist wesentliches Anliegen der Arbeiten von Anja Vormann und Gunnar Friel, so v.a. im Projekt „Living Park”, Düsseldorf 2002, zu beobachten, das sich als fotografische Dokumentation im “Archiv zur Beobachtung unkontrollierter Wachstumsprozesse” findet. Fotografische Aufnahmen des Düsseldorfer Hofgartens wurden nach Recherche vor Ort mit den Befehlen „copy and paste“ modifiziert. Die sinnlosen und unnatürlichen Eingriffe wurden dann im realen Raum umgesetzt. Die fotografische Dokumentation der Realisierung eines Computerentwurfs als Installation ist oft nicht von seinem (fotografischen) Entwurf im Computer zu unterscheiden. Ob eine Fotografie auf Wirklichkeit referiert oder als digitales Bild analoge Bildmuster imitiert und referenzlos ist, ist ununterscheidbar. Auf einer theoretischen Ebene wird die künstlerische Ausführung in Frage gestellt, auf einer physischen Ebene jedoch nicht. Das Betrachten einer fotografischen Dokumentation ist auf keinen Fall zu verwechseln mit der realen Anwesenheit im physischen Raum.

„The Symptom“ bildet eine Zusammenschau gemeinsamer Projekte seit 2001. Die ausgestellten Fotografien aus dem „Archiv zur Beobachtung unkontrollierter Wachstumsprozesse“ stammen aus der Internetpräsentation www.the-symptom.net und umfassen die Kategorien „real“ (vorgefundene Realität), „Entwurf“ (manipulierte Fotografie) und „Installation“ (ausgeführter Entwurf). Einzig das gebaute Modell findet keine fotografische Verwertung in diesem Bildarchiv, das ganz auf die Kategorisierungen der Betrachter setzt. Es sind ihre Wahrnehmungen, die zwischen möglicher, wahrscheinlicher und unwahrscheinlicher fotografischer Referenz auf eine Wirklichkeit unterscheiden, die eine drohende, von Wachstumshormonen vitalisierte, Menschen ausschließende Tendenz entwickeln. Durchaus im Rahmen des vorstellbar Unvorstellbaren: Im Genlabor hat sich ein Mitose-Gen, vielleicht auch ein Wachstumshormon verselbständigt und wird über die Luft übertragen, befällt Natur und Kultur gleichermaßen. Das Archiv bietet an, an den objektiven Tatsachen, die das Künstlerpaar in Form fotografischer Dokumente sammelt, teilzunehmen. Den Bildern vorausgegangen ist das Beobachten und Experimentieren. An Vergleich und Hypothesenbildung kann sich der Ausstellungsbesucher beteiligen. So ist die ganze Kette wissenschaftlicher Hypothesenbildung korrekt erfüllt.

Biologische Vermehrungs- und Wachstumsgesetze sowie zahlreiche andere Phänomene des Lebendigen, mit ihren Normabweichungen, wie beispielsweise Krebs und Impulsen zur Entropie, werden auf die uns umgebende Umwelt übertragen. Die bekannten Objekte werden mit unheimlichen, die Grenzen des Normalen überschreitenden Eigenschaften ausgestattet, wirken belebt durch ihre Ausweitungen, Vermehrungen, sind Klone und Mutanten, aber beseelt sind sie nicht. Sie befallen ausschließlich tote Materie und Pflanzen, bleiben also im unteren Bereich der biologischen Hierarchie, irgendwo zwischen Mineralien, Asphalt, Plastik, Einzeller und Pflanze.

Stefanie Grebe, 2004


1 Definition nach: Linder Biologie, Lehrbuch für die Oberstufe, Stuttgart 1980, S.5: „Stoffwechsel, Wachstum, Vermehrung, Reizbarkeit, Regulationsfähigkeit und oft auch Bewegung sind wichtige Kennzeichen der Lebewesen.“
2 „Forschungsrichtung, die vergleichende Betrachtungen über Gesetzmäßigkeiten im Ablauf von Steuerungs- u. Regelungsvorgängen in Technik, Biologie u. Soziologie anstellt.“ Fremdwörterbuch DUDEN, Mannheim 1974.